Das Gespräch führte der Journalisten Jan-Martin Wiarda, auf dessen Blog es auch publiziert ist: https://www.jmwiarda.de/2021/12/08/ein-absturz-sondergleichen-aber-die-g...
Die Ampel-Koalition hat einen grundlegendenden Neustart für das Bafög versprochen. Wenn Sie sich den Koalitionsvertrag durchlesen, Herr Anbuhl, sehen Sie den auch?
Anbuhl: Ja, den sehe ich. Die Ampelkoalition hat die richtigen Stellschrauben erkannt, in ihren Plänen steckt viel Potenzial. Zwei Fragen sind offen. Erstens: Wann kommt die Reform? Zweitens: Wie kraftvoll wird sie tatsächlich ausfallen? Ich höre allenthalben von Ampel-Politikern, dass viel Geld fürs Bafög bereitstehen soll.
Herr Müller, in seiner neuen Analyse zur Studienfinanzierung in Deutschland fordert das CHE einen "großen Wurf" beim Bafög. Steckt der in den Ampel-Versprechungen?
Müller: Die ganze Koalitionsvereinbarung ist vielversprechend, aber eben in einem doppelten Sinn. Wenn die Planungen zum Bafög Realität würden, wäre das ein Paradigmenwechsel, die Ampel hätte die Chance, Bildungsgeschichte zu schreiben. Das Problem ist, dass das kosten wird und es bei den Passagen, in denen das wirklich Neue drinsteht, häufig heißt, dieses soll "geprüft" und jenes "angestrebt" werden. Insofern können wir nur hoffen, dass der große Wurf nicht gleich wieder kleingerechnet wird.
Wie konnte es überhaupt so weit kommen, dass das Bafög so in die Krise geraten ist? Heute erhalten noch elf Prozent aller Studierenden die Ausbildungsförderung, in den 70ern waren es über 40 Prozent.
Anbuhl: Die Grundidee des Bafög ist weiter eine großartige: ein Rechtsanspruch auf Ausbildungsförderung, der bis in mittlere Einkommensschichten reicht und den Aufstieg durch Bildung ermöglicht. Doch die vergangenen Regierungen haben diese großartige Errungenschaft nicht mehr gepflegt. Zwischen 2010 und 2016 gab es sechs Nullrunden, und das führt dazu, dass nur noch die absoluten Geringverdiener profitieren, Leute aus der unteren Mittelschicht aber kaum noch. Hinzu kommt, dass die Studien- und Lebenswirklichkeiten sich verändert haben.
Was meinen Sie damit?
Anbuhl: Mittlerweile ist schon ein Drittel der Studierenden raus, weil gar nicht antragsberechtigt – weil sie entweder zu alt sind, weil sie den falschen Pass oder weil sie zu lange studiert haben.
Müller: Die Hochschulwelt hat sich weiterentwickelt, das Bafög ist stehen geblieben, weil es durch einen normenorientierten Ansatz geprägt ist. Der geht von einem Standardstudenten aus, den es immer weniger gibt. Das Bafög sieht eine Altersgrenze vor: 30 Jahre beim Bachelor, 35 Jahre beim Master. Es finanziert auch keinen MBA und keine offiziellen Teilzeit-Studiengänge. Die Hochschulrektorenkonferenz sagt, Teilzeit sei eine zeitgemäße Studienform, doch das Bafög kennt dafür keine Regelungen.
Anbuhl: Es ist schon in Ordnung, dass ein Gesetz, das einen Rechtsanspruch formuliert, eine gewisse Normenorientierung hat. Nur muss es auf der Höhe der Zeit sein.
Müller: Ich weiß noch, wie ich im Oktober 1995 meinen ersten Bafög-Bescheid in den Händen hielt, 640 Deutsche Mark, und das war meine Rettung. Ich komme aus einer siebenköpfigen Familie, ohne Bafög hätte ich nie studieren können. Insofern bin ich ein Riesenfan des Bafög, aber heute komme ich mir damit vor wie ein Fan von Alemannia Aachen oder des KFC Uerdingen. Die haben auch schon mal bessere Zeiten gesehen.
Anbuhl: Alemannia Aachen oder KFC Uerdingen, Regionalliga – das trifft es nicht. Das Bafög ist eher der FC Sankt Pauli: ein cooler Zweitligist, den man aufmotzen muss, und dann könnte er wieder in der ersten Liga spielen.
Müller: Wenn ich mir die Entwicklung der Förderfälle ansehe, dann ist das ein Absturz sondergleichen, der nicht mehr für die zweite Liga reicht.
Anbuhl: Einigen wir uns darauf: Das Bafög war mal erstklassig, und da soll es auch wieder hin. Und bis heute steht es im Zentrum der deutschen Studienfinanzierung, es überragt alle anderen Instrumente.
Müller: Aber das kann ja nicht das einzige Ziel sein, dass das Bafög noch mehr Studierende erreicht als der KfW-Studienkredit oder das Deutschlandstipendium. In den letzten Jahren haben Menschen, die eine Chance verdient haben, keine Chance bekommen und sind steckengeblieben in der Abhängigkeit von ihren Eltern, vom Jobben.