09.06.2023

22. Sozialerhebung - Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in Deutschland 2021

Statement von Matthias Anbuhl, Vorstandsvorsitzender des Deutschen Studierendenwerks, bei der Pressekonferenz zur Veröffentlichung der 22. Sozialerhebung am 24. Mai 2023.

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Diese 22. Sozialerhebung ist in der Tat neu, und sie ist besonders.

Sie ist neu eingefügt in die große, übergreifende „Studierendenbefragung in Deutschland“, und sie umfasst neue Gruppen von Studierenden.

Diese Sozialerhebung ist besonders, weil sie von Mai bis September 2021 durchgeführt wurde, also über einen Zeitraum, in dem die Coronavirus-Pandemie abklang – und Krieg, Inflation und Preiskrise nicht absehbar waren. Die Studierenden kamen im Zeitraum der Befragung raus aus drei Lockdown-Semestern; sie tasteten sich wieder an die Präsenz-Normalität heran. Auch die Online-Überbrückungshilfe für Studierende in pandemiebedingten finanziellen Notlagen, welche Hilfe wir fürs BMBF umgesetzt hatten, wurde im Befragungszeitraum noch beansprucht.

Man muss also die Daten und Zahlen vor diesem Hintergrund einordnen. Und man muss differenzieren: Auf die Frage, wie denn nun die soziale und wirtschaftliche Lage der Studierenden sei, gibt es mehr als eine Antwort.

Es gibt eben nicht die Studierenden, den Studenten, die Studentin.

Man muss differenzieren zwischen den Gruppen von Studierenden, die nun alle in diese neue Sozialerhebung integriert sind:

  • die 80% Studierenden in einem klassischen Präsenz-Studium
  • die 5% berufsbegleitend Studierenden
  • die 10% Fernstudierenden (von denen viele ebenfalls berufsbegleitend studieren)
  • und die 5% dual Studierenden.

Wir haben 8% Studierende mit Kind, 15% internationale Studierende, 17 % Studierenden mit Migrationshintergrund, 16% Studierende mit gesundheitlicher Beeinträchtigung. Wenn Sie mit den Daten der 22. Sozialerhebung arbeiten, müssen Sie diese unterschiedlichen Gruppen von Studierenden vor Augen haben.

Uns treiben als Deutsche Studierendenwerke drei Befunde um.
 

1. Wir sehen bei der Studienfinanzierung eine soziale Polarisierung.

Gewiss, ein Viertel aller Studierenden hat mehr als 1.300 Euro im Monat zur Verfügung; dieses Viertel gilt sicher nicht als armutsgefährdet. Hier schlagen die Fern-Studierenden und die berufsbegleitend Studierenden zu Buche, die eben in aller Regel finanziell weit besser ausgestattet sind. Am anderen Ende des Spektrums aber sehen wir:

37 % der Studierenden verfügen im Monat über weniger als 800 Euro – das sind nochmal 60 Euro weniger, als die  Düsseldorfer Tabelle zum Erhebungszeitpunkt im Sommer 2021 für den Elternunterhalt für auswärts wohnende Studierende vorgab. Diese Gruppe ist mit eben 37 % weiter größer als die Gruppe Studierenden, die BAföG erhalten; das sind 13%. Das meine ich mit Polarisierung: Wir haben einerseits die 25% finanziell sehr gut Alimentierten – und andererseits ein Drittel der Studierenden, deren finanzielle Situation prekär zu nennen ist. Wir sorgen uns um diese Studierenden, die finanziell zu kämpfen haben. Auch sie sind zukünftige Lehrerinnen und Lehrer, Ingenieurinnen und Ingenieure, Pflegefachkräfte und Informatikerinnen, die wir so dringend brauchen.

Mein dringender Appell ans BMBF ist:
Lassen Sie beim BAföG bitte nicht nach. Erhöhen Sie die Bedarfssätze, erhöhen Sie unbedingt auch die Eltern-Freibeträge, damit endlich wieder mehr Studierende vom BAföG profitieren können! Gehen Sie auch bitte die strukturelle Reform an. Speisen Sie die Studierenden in diesem schwierigen Jahr nicht ab mit einer BAföG-Nullrunde.
 

2. Die Mietausgaben der Studierenden steigen weiter stark.

Dieser zweiter Punkt wird Sie nicht überraschen, meine Damen und Herren: Die Miete ist weiterhin der größten Ausgabenposten; 410 Euro geben die Studierenden im Schnitt im Monat für die Miete aus – und das ist ein Wert wie gesagt vor Inflation und Energiepreis-Krise!

Die 22. Sozialerhebung ist eine Momentaufnahme aus dem Sommer 2021. Seitdem ist in deutschen Hochschulstädten bezahlbarer Wohnraum für Studierende noch mehr zur Mangelware geworden, und die Mieten sind mit Sicherheit noch weiter gestiegen; das belegen auch jüngste Marktforschungs-Studien. Die Studierenden müssen und wollen seit dem Sommer 2021 wieder in die Hochschulstädte; der Anteil der Eltern-Wohner*innen liegt ähnlich hoch wie vor der Pandemie. Der Mangel an bezahlbarem Wohnraum ist eine brennende soziale Frage unserer Zeit, nicht allein für die Studierenden.

Ich sage: Die Wahl des Hochschulorts darf nicht vom Geldbeutel abhängen. Zur Erinnerung: Beim BAföG sind fürs Wohnen derzeit 360 Euro im Monat vorgesehen. Das reicht in kaum einer Hochschulstadt für ein WG-Zimmer. Die Zahl der staatlich geförderten Studien-Plätze ist seit dem Jahr 2007 um 52% gestiegen – die Zahl der staatlich geförderten Wohnheim-Plätze bei den Studierendenwerken aber nur um 7%.

Wir begrüßen deshalb als Deutsches Studierendenwerk das Bund-Länder-Programm ‚Junges Wohnen‘ ausdrücklich, um mehr bezahlbaren Wohnraum für die junge Generation zu schaffen. Wenn die Länder ihrerseits kräftig fördern, kann dieses Programm mittelfristig den Wohnungsmarkt für Studierende etwas entspannen. Wir benötigen aber dringend eine Verstetigung des Programms. Sonst drohen wir potenzielle Fachkräfte zu verlieren, weil das Hochschulstudium wegen der horrenden Mietkosten an Attraktivität verliert.
 

3. Mehr Studierende haben eine gesundheitliche Beeinträchtigung, und psychische Erkrankungen haben stark zugenommen.

Der dritte Befund: 16 % aller Studierenden haben eine oder mehrere gesundheitliche Beeinträchtigungen – das ist jede und jeder Sechste! Der Anteil lag 2016, bei der 21. Sozialerhebung, noch bei 11 %.

Studierende mit psychischen Erkrankungen bilden auch 2021 die bei weitem größte Gruppe unter den studienrelevant Beeinträchtigten. Ihr Anteil ist nochmals deutlich – um 10 Prozentpunkte – gegenüber 2016 gestiegen, von 55% auf 65%. Gleichzeitig wirken sich psychische Erkrankungen im Vergleich zu anderen Beeinträchtigungen überdurchschnittlich häufig besonders stark im Studium aus. Wir haben im deutschen Hochschulsystem, nunmehr belegt durch die 22. Sozialerhebung, eine Mental-Health-Krise der Studierenden.

Die Pandemie-Semester fordern ihren Tribut. Wir wissen aus den psychosozialen Beratungsstellen der Studierendenwerke: Die psychischen Belastungen der Studierenden sind angesichts der multiplen Krisen unserer Zeit seit dem Sommer 2021 noch gravierender, existenzieller geworden; sie reichen von Existenzängsten, Zweifeln, depressiven Verstimmungen bis hin zu Suizid-Gedanken. Die 22. Sozialerhebung spiegelt diese psychische Krise wieder. Ich denke, alle im deutschen Hochschulsystem sind aufgefordert, ihr zu begegnen. Wir wünschen uns von der Bundesregierung, dass sie im Verbund mit den Ländern die psychosoziale Beratung der Studierendenwerke ausbaut, mit zehn Millionen Euro über die kommenden vier Jahre.

Mein Fazit aus der 22. Sozialerhebung:

  • Ein gutes Drittel der Studierenden kämpft mit einer prekären Finanzierung.
  • Die Miet-Belastung der Studierenden steigt weiter ungebrochen an.
  • Gesundheitliche Beeinträchtigungen haben zugenommen, am meisten psychische.

An diesen Punkten muss die Politik aufhorchen, unterstützen, gegensteuern.